So bleibt der Mensch im Mittelpunkt

Digitalisierung bedeutet nicht automatisch, dass Mitarbeiter in Betrieben vollständig entmündigt, überwacht und Arbeitsprozesse durch Maschinen entmenschlicht werden.

Interview in der Tiroler Tageszeitung zum Sonderthema „Industrieland Tirol“ am 3. Juli 2019

Digitalisierung: So bleibt der Mensch im Mittelpunkt

Digitalisierung bedeutet nicht automatisch, dass Mitarbeiter in Betrieben vollständig entmündigt, überwacht und Arbeitsprozesse durch Maschinen entmenschlicht werden, sagt Arbeitspsychologe Ing. Mag. Bernhard Mair. Allerdings sollten Unternehmen mit entsprechenden Vereinbarungen sicherstellen, dass der Mensch im Mittelpunkt bleibt.

Was sind aus Ihrer Praxiserfahrung die größten Problemfelder bei der Digitalisierung von betrieblichen Abläufen?

Mair: Es gibt zwei Zugänge: Zum Ersten die Interaktion mit Nicht-Menschen, wenn also im Augenblick der Interaktion nicht klar ist: Wer ist z.B. im Rahmen digitaler Kommunikation mein Gegenüber? Und zum Zweiten das Thema Überwachung und Entmündigung. Vor allem die vollständige Mitarbeiter-Überwachung steht als Gefahr für den persönlichem Handlungsspielraum im Vordergrund.

Wenn z. B. digitale Zeiterfassung über das Mobiltelefon in Unternehmen etabliert wird, schafft das zwar zunächst Erleichterungen, weil Mitarbeiter*innen nicht mehr an lokale Zeiterfassungssysteme gebunden sind. Aber gleichzeitig taucht dann die Frage auf: Werden auch geographische Daten (GPS) miterfasst? Das wird vor allem bei Mitarbeitern*innen im Außendienst ein Thema, wenn diese deren Firmen-Pkws auch für private Zwecke nutzen können. Wenn das alles digital automatisch dokumentiert wird, würde dies eine totale Überwachung darstellen.

Ein weiteres Beispiel wäre, wenn für die Erledigung von Aufgaben fixe Intervalle vorgegeben werden. Das ist der Fall bei der Betreuung von Menschen z.B. in Therapieeinrichtungen: Wenn exakte Minutenintervalle für einen Klienten bzw. Patienten vorgegeben werden, dann können über das zur Verfügung stehende Zeitintervall hinausgehende Bedürfnisse aller Beteiligten auf der Strecke bleiben.

Was können Unternehmen und Institutionen tun, um dem zu begegnen?

Das wichtigste Thema ist Transparenz: Mitarbeiter*innen müssen Kenntnis darüber haben, wie deren Daten verwendet werden, und sie sollen auch in ausreichendem Ausmaß die Kontrolle über ihre Daten haben, indem z. B. innerhalb von 24 Stunden digitale Protokolle selbst geändert werden können. Um beim Beispiel von Außendienstmitarbeiter*innen zu bleiben, dass private Fahrten auch als solche zwar bezeichnet, Zeit- und Ortsangaben aber gelöscht werden können.

Das muss der Arbeitgeber dann auch dulden.

Ja, das sollte z.B. in einer Compliance-Vereinbarung entsprechend fixiert sein. Ein ganz anderes Beispiel wäre das Programmieren, Einrichten und Überwachen von CNC-Maschinen bei automatisierten Fertigungsprozessen. Solche Arbeitsplätze sollten möglichst unterbrechungsfrei gestaltet werden und gleichzeitig Zeit und Raum bieten, dass Arbeiter*innen genügend Entscheidungs- und Handlungsspielraum haben, den direkten Arbeitsplatz zu verlassen.

Der Mitarbeiter darf also durch digitale Überwachung nicht in einem zu engen Korsett gefesselt werden? Gibt es da Musterverträge für solche Compliance-Vereinbarungen?

Nein, das sind naturgemäß sehr betrieblich-individuelle Vereinbarungen, bei denen es auch darum geht, die Mitarbeiter*innen einzubeziehen.

Gibt es aus Ihrer Praxiserfahrung die Erkenntnis, dass sich das positiv auf den Betrieb auswirkt?

Ja. Die durch Mitarbeiter*innen mitbestimmte Gestaltung von Arbeitsaufgaben, Arbeitsstruktur und Arbeitszeit wirkt sich sehr positiv auf die Arbeitszufriedenheit und Arbeitsmotivation aus.

Wo steht Tirol bei der mitarbeitergerechten Vorbereitung auf künstliche Intelligenz und digitale Zukunft?

Generell ist meine Einschätzung, dass die Industrie hier sehr viel weiter ist als nichtindustrielle Klein- und Mittelbetriebe. Dort, wo die Industrie stark ist, ist auch dieses Thema sehr gut verankert, z. B. in Oberösterreich.

Ihre Empfehlungen für die Tiroler Unternehmen?

Grundsätzlich ist die Beteiligung von Mitarbeiter*innen bei der Gestaltung von Arbeitsprozessen ein spannendes Thema für die Gesundheit am Arbeitsplatz und den Erfolg von Unternehmen. Betriebe, die hier tätig werden, haben auch Vorbildwirkung auf andere. Hier finde ich die Einbeziehung von Arbeitspsycholog*innen sehr lohnend.

Die Zielsetzungen der Arbeitspsychologie sind zweifach: zum Ersten das Thema Gesundheit am Arbeitsplatz als wesentliche Voraussetzung für Zufriedenheit am Arbeitsplatz, und zum Zweiten die Chance der Persönlichkeitsweiterentwicklung von Mitarbeiter*innen.

Das bedeutet auch, lebenslanges Lernen zu ermöglichen und zu unterstützen. Denn eines ist klar: Um flexibel auf die, immer rascher voranschreitenden Entwicklungen in Unternehmen reagieren zu können bzw. um diese auch selbst mitzugestalten, ist die Fähigkeit zu einer fortwährenden Anpassung in unseren Arbeitsbiografien erforderlich. Außerdem ist die Fähigkeit zur Selbstreflexion über das eigene Handeln und die persönlichen Zielsetzungen wesentlich. Ich bin der Ansicht, dass in dieser Hinsicht noch viel zu tun ist. Nicht nur in der Aus- und Weiterbildung im Arbeitsleben selbst, sondern schon im vorausgehenden Schul- und Bildungsbereich.

ZUR PERSON:

Ing. Mag. Bernhard Mair ist zertifizierter Arbeits- und Organisationspsychologe, Unternehmensberater, Mediator, Referent am MCI-Management Center Innsbruck und an der Österreichischen Akademie für Psychologie. Er engagiert sich als Obmann des Vereins Konflikthilfe Tirol für den Einsatz außergerichtlicher Konfliktlösungsverfahren. Mair kennt die betriebliche Praxis, war knapp zehn Jahre lang Projektleiter und Bauleiter bzw. Baumeister. Er lebt und arbeitet in Telfs.